Von Mike Herting
Schon mehrfach habe ich anklingen lassen, dass ich beim Schreiben dieser Zeilen unter anderem in Afrika unterwegs gewesen bin, genauer gesagt in Westafrika, also im Senegal, in Mali und in Mauretanien. Als Musiker, der mit Afrikanern zusammenarbeiten möchte, muss ich mir Gedanken machen, wie diese Zusammenarbeit aussehen soll, und da stosse ich ganz schnell bei mir selbst auf vorgefertigte Gefühle und Urteile, die ich aus Europa mitgebracht habe und deren ich mir genauer bewusst werden muss.
Immer noch ist es so, dass Afrikaner in der westlichen Gesellschaft nur in ganz bestimmten Grenzen als gleichwertig akzeptiert werden. Christoph Schlingensief hat dieses Verhalten auf den Punkt gebracht indem er Kennedys Ausspruch „Frag nicht , was der Staat für Dich tun kann, sondern was Du für den Staat tun kannst“ abgewandelt hat in “ Frag nicht, was Afrika von Dir lernen kann, sondern was Du von Afrika lernen kannst“.
Für einen Europäer ist dies zunächst ein unverständlicher und provokanter Satz. Denn unbewusst haben wir alle verinnerlicht, dass es wir sind, die die höchste Stufe der Zivilisation erreicht haben, was können wir schon von Afrika lernen?
Diese Haltung ist zumeist noch nicht einmal böse oder aggressiv gemeint und wird von Menschen vertreten, die gut und gerne für Afrika spenden. Dennoch ist sie falsch und führt nicht nur zu kulturellen Missverständnissen, sondern nimmt uns selbst eine grosse Chance, unser eigenes Leben in Frage zu stellen und Dinge darin zu verbessern.
Auf den ersten, medienverbogenen Blick scheint es auch unsinnig zu sein, von einem Kontinent zu lernen, in dem es immer noch an der Regel ist, dass man Kindern Waffen in die Hand gibt und zu Grausamkeiten treibt, in dem die Geissel der Menschheit, die Korruption, in höchster Blüte steht, in dem die Menschen nur in die Politik gehen, um sich zu bereichern, in dem in weiten Teilen Armut und Hunger herrschen. Das alles ist richtig, aber abgesehen davon, dass auch unsere Zeit der Barbarei in Deutschland noch nicht all zu lange her ist, und in Südosteuropa heftige und überaus grausame Konflikte heute noch aufbrechen, darf es uns nicht den Blick darauf verstellen, dass Weisheit und Lebenskunst nicht nur in westlichen Grossstädten zu finden sind , dass Reichtum nicht nur durch grosse Autos und teure Parfums definiert werden kann.
Zwei Blickwinkel bestimmen die Sicht des Europäers in Hinblick auf Afrika: Da ist einmal die Notwendigkeit der Entwicklungshilfe und auf der anderen Seite das Bild des fröhlichen trommelnden Afrikaners, der ja- wie die unsägliche Gloria von Tumb und Tacheles öffentlich festgestellt hat- hauptsächlich gerne „schnackselt“.
Im allgemeinen ist die Haltung der meisten Europäer bestenfalls paternalistisch, Afrikaner werden oft wie Kinder betrachtet, denen man beibringen muss, wie das Leben so funktioniert. Überprüfen Sie sich selbst: Was fühlen Sie, wenn Sie zum Beispiel zum Arzt gehen und auf einmal einen schwarzen Mann vor sich sehen?
Dieses Beispiel ist mir vor einigen Jahren selbst passiert, als ich mir in Guinea-Bissau mitten im Dschungel eine ziemlich tiefe Kopfwunde zugezogen hatte und von hilfreichen Menschen über mehrere hundert Kilometer zu einem Arzt gebracht wurde, der natürlich ein Schwarzer war. Bis heute schäme ich mich dafür, dass ich ihn gefragt habe, wann denn der Arzt käme, ich hatte ihn automatisch für eine Hilfe gehalten. Dieser Mann antwortete kühl, er habe in Portugal Medizin studiert und behandelte mich dann so gut, dass nach meiner Heimkehr mein Hausarzt des Lobes voll über seinen Kollegen war. Vorurteile gedeihen im Verborgenen und manchmal bedarf es eines Anstosses, um sie bei sich selbst sichtbar zu machen.
Aber das ist es nicht, von dem ich meine,dass man davon lernen kann, sondern es zeigt nur die tief verinnerlichte Arroganz, die wir uns zu eigen gemacht haben. Wieder ist es die materialistische Weltsicht, die uns in die Irre führt, die uns den Zugang zu Technik mit Lebensqualität verwechseln lässt.
Was also können wir lernen? Wie wäre es mit etwas ganz Einfachem: Dem aufrechten Gang? So oft ist mir das aufgefallen, Afrikaner schreiten, mit aufrechtem Oberkörper, während wir Europäer unter Druck hetzen,schleichen, mit vornübergeneigtem Kopf unserem nächsten Termin entgegeneilen. Oder mit dieser unfassbaren Gastfreundlichkeit, die ich immer und überall erlebe und deren einzige negative Seite das Gefühl ist, dass ich als westlich geprägter Mensch derart ichbezogen bin, dass es mir schwerfallen wird, Ähnliches zu erwidern, mich hintenan zu stellen mit meiner integrierten Unruhe, ich könnte etwas verpassen, wenn ich mich dermassen ausgiebig dem Gast widme wie die Afrikaner. Und dann das Wichtigste, die dritte Forderung der französischen Revolution, die Brüderlichkeit. Freiheit und Gleichheit stehen in Afrika unter Druck, aber die Brüderlichkeit, die ich in meinem Heimatland so schmerzlich vermisse, ist allgegenwärtig und sie ist es, die das Leben in Afrika nicht nur erträglich macht, sondern die mich immer wieder überwältigt mit ihrem Glücksgefühl.
Dies alles und viel mehr sind Tugenden, die der schriftkulturfixierte Europäer erstmal wieder erkennen und lernen muss, er, der nur an Verifizierbarkeit der Ergebnisse glaubt und der den allgegenwärtigen Wundern und Unglaublichkeiten, die man in Afrika täglich erlebt, skeptisch, ja hilflos gegenüber steht. Ich wünsche mir viel mehr Neugier und Respekt im Umgang mit Afrika, mehr Lernbereitschaft und Verständnis für das Andere, das weder besser noch schlechter ist, nur eben: anders. Denn wir brauchen den Austausch mit der afrikanischen Kultur, genau so wie diese den Austausch mit der unseren braucht, daran gibt es keinen Zweifel!